Wohin geht die Reise? Und womit?

Wie wir die Mobilität von morgen meistern.
August 2019

Wohin geht die Reise? Und womit?

Wie wir die Mobilität von morgen meistern.

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KEIN FORTSCHRITT OHNE NEBENWIRKUNGEN.

Fortschritt erwächst aus dem Bedürfnis, ein Problem zu lösen. Dass man es dabei übertreiben kann, sagt niemand so einleuchtend wie Paul Watzlawick. Oder so nüchtern wie Paul Virilio, der Begründer der Dromologie (der Lehre von Gesellschaft und Geschwindigkeit). Irgendwann, so Virilio, erreiche der Fortschritt seinen Zenit und würde, wenn er sich nur eindimensional wiederholte, zum Gegenteil, dem dromologischen Stillstand. Zum Beispiel: Je mehr Autos wir haben, desto höher die Wahrscheinlichkeit, im Stau zu stehen und gar nicht mehr vorwärts zu kommen. Mit jeder Lösung taucht ein neues Problem auf (Stau, schlechte Luft,…) und nun wäre es Fortschritt, wiederum dieses zu lösen. Die ganze bittere Wahrheit äußert Virilio, wenn er ganz ohne Zynismus sagt: »Die Erfindung der Eisenbahn ist auch die Erfindung der Entgleisung, die Erfindung des Flugzeuges ist die des Absturzes…« Schnell voranzukommen ist schön, aber das hat Nebenwirkungen.

MOBILITÄT ODER GESUNDE LUFT?

So ist die Erfindung des Automobils auch die Erfindung des beschleunigten CO2-Ausstoßes. Müssen wir uns entscheiden? Ohne Mobilität sind gesellschaftliche Teilhabe, individuelle Zufriedenheit, Fortschritt und Wirtschaftswachstum unmöglich. Mobilität steigert die Lebensqualität, erweitert ihren Facettenreichtum und vereinbart und verbindet die Ansprüche und Lebensentwürfe verschiedenster Menschen miteinander. Die Individualisierung ist dabei ein wichtiger Treiber für das wachsende Bedürfnis nach mehr Mobilität in der Zukunft. Und mit diesem Wunsch nach Unabhängigkeit wächst parallel auch noch die Anzahl der Menschen.

Dem gegenüber stehen Verkehrsnetze und Transportmittel, die zu einem großen Teil auf die Verbrennung fossiler Kraftstoffe ausgelegt sind. Der weltweite Ausstoß von CO2 stieg von 2014 auf 2015 zwar nicht an, sondern pendelte sich bei 36 Milliarden Tonnen ein, liegt damit aber immer noch katastrophal hoch. Die Mission ist klar: Wie können wir auch morgen Mobilität garantieren und gleichzeitig CO2-Emissionen zurückzufahren?

PEST ODER CHOLERA?

Veränderung beginnt in den Köpfen. Aber obwohl jedem klar ist, dass Kohlendioxid ein Problem darstellt, ist der durchschnittliche CO2-Ausstoß pro Fahrzeug 2017 weltweit um 0,4 auf 118,5 Gramm gestiegen. Auch Deutschland hat seinen Anteil daran mit dem Mehrverkauf schwerer SUV und Benzin-Modelle. Der wesentlich CO2-freundlichere Diesel ist keine Alternative, denn er ist zurecht ins Abseits geraten aufgrund seiner gesundheitsschädlichen Auswirkungen. Beim Verbrennungsmotor sieht es so aus, als hätten wir die Wahl zwischen Pest und Cholera.

KOMMT DIE KOMMUNISTISCHE MOBILITÄT?

Hinzu kommt, dass das Automobil immer noch eine starke Status- und Luxusfunktion erfüllt. Um es mit Tyler Durden zu sagen: »Alles, was Du hast, hat irgendwann Dich.« Und der wiederholte 1997 auch nur, was die Kyniker schon im 5. Jahrhundert vor Christus dachten: »Ich besitze nicht, damit ich nicht besessen werde«. Was mir gehört, ist mir lieb, kostet aber Aufwand. Der Einsatz beim Statusspiel wird irgendwann zu hoch, denn die Welt dreht sich weiter. Wie viele Menschen holen noch ihr Goldbesteck hervor, um ihren Besuch zu beeindrucken? Die Rolle des Automobils wird sich radikal ändern. Doch dazu später mehr. Noch spürt man zu wenig von den Konsequenzen. Das Versprechen stärkerer Leistung zieht immer noch, also wachsen die Motoren. Weltweit ist jeder dritte Neuwagen ein SUV.

CHINA FÄHRT VOR.

In Shanghai herrscht bereits die für den Elektroantrieb typische Verkehrsruhe. Zwar tummeln sich in China noch viele Benziner auf den Straßen, aber die Regierung schafft Tatsachen: Fahrzeuge mit Verbrennungsmotor dürfen nur sechs Tage pro Woche fahren und nach dem Kauf gibt es keine Garantie auf ein Nummernschild für Autos mit diesem Antrieb. Diese werden nämlich verlost. Somit werden in Peking 2018 nur 40.000 neue Benziner zugelassen, aber 60.000 Fahrzeuge mit Elektroantrieb. Von letzteren stammen die allermeisten von chinesischen Herstellern. Tesla muss aufgrund des Handelsstreits mit den USA Absatzeinbußen von 70 Prozent hinnehmen. Automarken, die ab 2019 nicht mindestens zehn Prozent Elektro- oder Hybridmodelle verkaufen, werden Strafe zahlen. Die Anzahl der Ladesäulen in Peking beläuft sich auf ca. 100.000.

ES IST WIEDER 1888.

In Deutschland gibt es verlockende finanzielle Anreize. Käufer von Elektroautos bzw. Pkw mit Brennstoffzelle erhalten 4.000 Euro Zuschuss. Bei Plug-In-Hybrid-Fahrzeugen sind es 3.000 Euro. Doch es braucht auch Ladestationen und der Ausbau des Netzes geht schleppend voran. Energieversorger, Tankstellen und Autohersteller sehen bei so geringen Verkaufszahlen wenig Anreiz. Die Autokäufer treffen ihre Entscheidung wiederum nach dem Ausbau des Netzes.

Das Tempo erinnert ein bisschen an die Situation von 1888, als Bertha Benz unterwegs der Treibstoff ausging und eine Apotheke in Wiesloch zur ersten Tankstelle der Welt wurde. Damals wurde Ligroin als Treibstoff verwendet, ein Mittel zur Textilreinigung, das nur in Apotheken erhältlich war. 1910 gab es in Deutschland immerhin schon 2.500 Tankstellen. An den heutigen Ladesäulen für Elektrofahrzeuge ist der Service aber immer noch historisch. Bei einem Test des ADAC schnitt von 53 Ladesäulen nur eine mit sehr gut ab und viele wurden als mangelhaft eingestuft. Oft fehle es an Kostentransparenz an der Säule oder an der Erkennbarkeit der Station im Straßenverkehr.

AUFLADEN ZUHAUSE?

Das Laden zu Hause ist keine Option, da es Haushalten und Tiefgaragen an stärkeren Stromanschlüssen fehlt. Hier nachzurüsten geht in die Tausende. Zwar bezuschussen Länder und Kommunen in Deutschland diese Ausgaben, allerdings nach ganz unterschiedlichen Kriterien. Ein weiteres Hindernis für eine schnelle Ausbreitung der Elektromobilität sind die langen Ladezeiten von mehreren Stunden. Stärkere Schnellladeanschlüsse und fortschrittlichere Batterien können dem bereits vereinzelt entgegenwirken.

UND SONST NICHTS?

Weitere Alternativen zum Verbrennungsmotor sind der Hybridantrieb (bei dem je nach Länge und Geschwindigkeit zwischen Akku und Verbrennungsmotor gewechselt wird), BtL-Kraftstoffe aus Biomasse (rein pflanzlich, aber noch nicht serienfähig), Erdgas (fossil, setzt aber weniger CO2 frei und daher als Übergangslösung geeignet) und natürlich Wasserstoff (Wasserstoff und Sauerstoff reagieren miteinander und treiben einen Elektromotor an). Was die letzte Option so attraktiv macht: Es entstehen nur Wärme und Wasser und ein Wasserstofftank ist in drei Minuten betankt. Nur das Netz in Deutschland ist mit 52 Wasserstoff-Tankstellen noch recht dünn, bis 2023 sollen es aber 400 sein.

WANN SIND WIR ENDLICH DA?

Doch was so umweltfreundlich klingt, ist leider nicht CO2-neutral. Zwar sind Lithium-Ionen-Batterie und Brennstoffzelle lokal emissionsfrei, verschieben aber das Problem auf die Herstellung von Batterien, den Strommix und die Erzeugung von Wasserstoff. Im Moment werden 98 Prozent des Wasserstoffes aus fossilen Energieträgern wie Erdöl, Erdgas und Kohle gewonnen. In Zukunft müssten Photovoltaik, Wind- und Wasserkraft, Solar- und Geothermie oder Biomasse als Quelle herhalten.

TRÄUMEN SIE LIEBER NICHT VOM BEAMEN.

Doch genug von Vergangenheit und Gegenwart. Werfen wir einige Blicke in die Zukunft. So gesellschaftlich erstrebenswert viele Dinge aus Star Trek sein mögen, das Beamen sollte lieber nicht dazugehören. Folgen wir einem Gedankenexperiment des amerikanischen Philosophen Derek Parfit. Stellen Sie sich vor, die Teleportation wäre möglich. Es gibt Kammern, in denen wir auf Knopfdruck von der Erde zum Mars reisen. Sie steigen ein, werden gescannt und völlig schmerzfrei aufgelöst. Auf dem Mars werden Sie bis aufs letzte Elementarteilchen ohne die geringste Abweichung wieder zusammengesetzt.

Stellen Sie sich vor, Ihre Freunde schwärmen davon, wie unmittelbar und angenehm die Reise verläuft: »Du drückst einen Knopf und bist plötzlich auf dem Mars!« Also entscheiden Sie sich dafür, das einmal auszuprobieren. Allerdings erfahren Sie im Zuge der Vorbereitungen ein beunruhigendes Detail. Um nichts dem Zufall zu überlassen, warten die Techniker bis Ihr gesamtes Ich auf dem Mars perfekt zusammengesetzt ist. Erst dann werden Sie auf der Erde pulverisiert. Während Ihr Klon sein Leben auf dem Mars fortsetzt, werden Sie – einfach umgebracht.

DIE EVOLUTION DER MOBILITÄT.

Was bleibt uns noch außer Star Trek? Das Zukunftsinstitut skizziert und begründet in der Studie »Die Evolution der Mobilität« die wahrscheinlichen Szenarien für das Jahr 2040. Das Auto wird wichtig bleiben, aber seine Rolle wird sich wandeln vom alles dominierenden Symbol für Freiheit und Status hin zum Bestandteil eines vielfältigen Mobilitätsmix, der sich mehr am eigentlichen Bedarf (von A nach B kommen) orientiert. Die erfolgreichen Automobile von morgen zeichnen sich durch intelligentes Energiemanagement und Nachhaltigkeit aus.

MEIN AUTO SUCHEN ANDERE AUS.

Diese Entwicklung zeigt erste zarte Triebe in der kostenlosen ADAC App e-Drive. Die App zeichnet automatisch die Fahrten des Nutzers in seinem bisherigen Fahrzeug auf und bezieht auch Kennzahlen wie Höhenprofil oder Außentemperatur mit ein. Auf diese Weise entsteht allmählich ein praxisnahes Profil, für das die App ein passendes Fahrzeugmodell vorschlägt. Ist bereits ein E-Fahrzeug in der App ausgewählt, berechnet das Smartphone in Echtzeit Ladestand und verbleibende Reichweite.

Im Vordergrund stehen hier nicht Marke, Design oder Leistung, sondern die Vereinbarkeit von ökologischer Motivation und Praxistauglichkeit. Hier zeichnet die App die oben angedeutete Entwicklung nach. Das Auto macht einen deutlichen Schritt in Richtung Gebrauchsgegenstand.

WANDEL VON ARBEITSWELT UND FREIZEIT.

In Zukunft wird sich die Arbeitswelt weiter von der klassischen Industrie zur Service- und Netzwerkökonomie entwickeln. Die Zahl der Jobs mit sehr hoher Mobilität wird weiter zunehmen. Komfortables Reisen, aber auch produktives Arbeiten sollen in Zukunft unterwegs möglich sein. Hier wird das autonome Fahren einen wichtigen Beitrag leisten.

Die zunehmende Vermischung von Arbeit und Privatem macht eine durchdachte individuelle Mobilitätsplanung für die Freizeit wichtiger. In der als schnelllebig empfundenen Welt, gewinnen Entschleunigung und achtsame Mobilität an Bedeutung. Die allgegenwärtige digitale Kommunikation erhöht das Bedürfnis nach echten Orten und realem Austausch. Ob sich Arbeit und Privates irgendwann gar nicht mehr unterscheiden lassen? Und welche Konsequenzen hätte das?

DER SPECK VON STAR WARS.

Zusätzlich werden steigende Mieten immer breitere Speckgürtel um Großstädte entstehen lassen und auf diese Weise das Bedürfnis nach Mobilität erhöhen. Um auch Star Wars zu zitieren: Vielleicht wachsen die Speckgürtel so weit an, dass die gesamte Erdoberfläche nur noch von einer einzigen Stadt bedeckt ist, genau wie auf das Coruscant, dem Zentrum der »weit entfernten Galaxis«.

In einer weltoffenen Gesellschaft wird der Tourismus einer der größten Zukunftsmärkte. Hürden werden fallen, denn internationale Mobilität funktioniert überall gleich, ganz wie beim Roaming-Prinzip. Fingerabdruck aufs Lesegerät und 20 Sekunden später kommt das Lufttaxi. Wie in Blade Runner, nur nicht so verregnet.

NUTZEN STATT BESITZEN.

Gut möglich, dass Sie gar kein Auto mehr haben werden, weil es dann keine Parkplätze mehr gibt (wie heute schon, aber es geht wohl noch schlimmer), weil es höhere Kosten verursacht, sehr viel rumsteht, Dreck macht. Aber vor allem, weil die Alternative so viel besser ist: Ein dichtes Verkehrsnetz aus verschiedensten Fortbewegungsmitteln, das elektrisch betrieben wird, alles abdeckt, eng verzahnt und bedarfsgerecht nutzbar ist. Streng genommen müsste in einem Fortbewegungsmittel niemand mehr volljährig oder nüchtern sein.

VERTRAUEN IST GUT, KONTROLLE IST GRÜN.

Mit jedem Fortschritt in der Mobilität erkaufen wir auch seine Nebenwirkungen, sein Scheitern. Wie kommen wir weg von fossilen Brennstoffen und was hindert uns an der Verbreitung neuer Antriebsarten? Die Gründe sind vielfältig, aber der Wandel von Arbeits- und Freizeit wird einen großen Einfluss darauf nehmen, wie wir morgen von A nach B kommen.
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ÜBER MARCUS LIND.

Unser Autor Marcus Lind leidet seit seiner Geburt an Beobachtungsüberschuss. Daher sein Hang zu Philosophie, Metaebenen und Fragestellungen, die den Alltag sprengen. Obwohl er beim Schreiben großen Wert auf Eindeutigkeit legt, ist er überzeugt davon, dass ein Text manchmal maximale Verwirrung stiften muss. Außerdem kann er diverse Tierstimmen imitieren (oft nur aus freien Stücken, selten auf Kommando) und kennt sich mit Klangsynthese aus. Sein Rat an alle Leser: Nicht alles, was nach einer Vita aussieht, ist auch eine. Nebenbei denkt und schreibt Marcus Lind als Texter und Konzeptioner für große und kleine Marken auf marcus-lind.de.

Der Artikel als Illustration.

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