Wer hat die Verantwortung?

Unternehmen und Verbraucher zwischen Fortschritt und Umweltschutz.
Februar 2019

Wer hat die Verantwortung?

Unternehmen und Verbraucher zwischen Fortschritt und Umweltschutz.

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DIE ZWEI GESICHTER DES FORTSCHRITTS.

Die romantische Vorstellung, dass der Mensch früher im Einklang mit der Natur gelebt habe, ist nicht mehr als das – eine Vorstellung. Jedes Ökosystem, das er betritt, nutzt er voll und ganz zu seinen Gunsten aus. Jede Tür, die der Fortschritt öffnet, jede Annehmlichkeit, die er bringt, hat ihren ökologischen Preis. Das war schon immer so. Ökologisches Ungleichgewicht ist kein Phänomen der Neuzeit. Aber das Lösen von Problemen auch nicht. In jüngster Zeit gewinnen zwei Entwicklungen an Bedeutung, die den ökologischen Bemühungen der Menschheit eine neue Dynamik verleihen und sie auf eine neue Ebene heben.

NEUE VORZEICHEN.

Einerseits gibt es einen Wertewandel. Rund um den Erdball und in allen Schichten ist das Thema Umweltschutz eine feste Größe, vom Städtebau über die Finanzwirtschaft bis zum achtsamen Verbraucher – ein Kräfteverhältnis so günstig wie noch nie. Globalisierung und Vernetzung zeigen, dass wir alle in einem Boot sitzen. Wir alle sind Stakeholder geworden und teilen eine große kollektive Verantwortung, die wir immer stärker übernehmen. Verweigerern droht die Isolation. Die zweite große Änderung geht vom Fortschritt aus. Denn zum Glück kann uns dieser immer besser dabei helfen, seine eigenen negativen Auswirkungen aufzuhalten oder gar umzukehren. Die ideologische Ablehnung jeglicher Art von Fortschritt, wie sie ironischerweise auch aus der romantischen Ökobewegung kommt, erweist sich als unhaltbar.

UND WIE WIRKT SICH DAS AUS?

Ökologie und gesellschaftliches Engagement nehmen einen immer größeren Einfluss auf die Wirtschaft. Waren es früher rein finanzielle Kriterien, die das Handeln von Unternehmen bestimmten, so sind heute Umweltfragen wie CO2-Einsparung, aber auch soziale Fragen wie Arbeitsbedingungen, Korruptionsbekämpfung, etc. zu Wirtschaftsfaktoren geworden. Die Nachfrage nach Umwelttechnologien steigt, die Hightech-Industrie schafft Innovationen. Emissionszertifikate haben sich als Währung etabliert.

Die Bedeutung der CSR nimmt weiter zu, denn Verbraucher, Investoren, Politik und Geschäftspartner schauen sehr genau hin. Seit 2018 sind über 500 große, am Kapitalmarkt orientierte Unternehmen in Deutschland dazu verpflichtet, einen Nachhaltigkeits- oder CSR-Bericht vorzulegen. Die Kennzahlen orientieren sich an internationalen Standards, um vergleichbar zu sein. Spezialisierte Ratingagenturen bewerten anhand dieser Daten die CSR-Leistung börsennotierter Unternehmen. Um ein CSR-Management kommen diese nicht mehr herum. Das wirtschaftliche und das ökologische, echte Überleben werden eins.

EINE FRAGE DER WAHRNEHMUNG.

Ein Fortschritt, der die ökologischen Auswirkungen immer weiter minimiert, hat natürlich zur Folge, dass Fehler oder Rückschläge umso stärker hervorstechen und damit auch ein umso größeres PR-Problem für betroffene Unternehmen bedeuten. 1973 gelangte weltweit bei über einhundert Vorfällen Öl ins offene Meer. Umso größer war die Aufmerksamkeit beim Unglück auf der Deepwater Horizon 2010, als die Zahl der Vorfälle einen neuen Tiefpunkt erreicht hatte und bereits unter zehn lag. Und all das während sich die transportierte Ölmenge von 1970 bis 2016 verdoppelt hat. Wirtschaftswachstum und ökologischer Fortschritt sind kompatibel.

GUTE SEITEN FÜR VERBRAUCHER.

Für Verbraucher zählte früher vor allem die Qualität eines Produkts oder einer Dienstleistung und das Preis-Leistungsverhältnis, also der maximale Eigennutzen. Der Wertewandel hin zu mehr Verantwortung lässt Verbraucher auch auf andere Faktoren schauen. Ein Beispiel dafür, in dem sich auch gleichzeitig die Digitalisierung (also der Fortschritt) niederschlägt, sind Seiten wie The Good Guide, B Corp, JustMeans Insights und andere. Diese bieten umfassende Datenbanken mit tausenden von Produkten und deren CSR-relevante Bewertung. Mit der App von The Good Guide ist es ein Kinderspiel, unterwegs eine informierte Kaufentscheidung zu treffen. Einfach den Barcode scannen und schon erfährt der Nutzer, wie das Produkt abschneidet.

DIE GEFÜHLTE TOP TEN.

Eine Studie des Reputation Institute in Boston verglich im Jahr 2017 170.000 Berichte aus 15 Ländern in denen Verbraucher das gesellschaftlich verantwortungsvolle Handeln von Unternehmen einschätzten. So sieht die Rangliste aus:

1. LEGO
2. Microsoft
3. Google
4. Walt Disney
5. BMW Group
6. Intel
7. Robert Bosch
8. Cisco Systems
9. Rolls-Royce
10. Colgate-Palmolive

Apple, Samsung und Volkswagen rutschten ab. Der Konzern aus Cupertino wegen mangelnder Kooperation mit Sicherheitsbehörden während der Untersuchung einer Schießerei und Samsung wegen des thermischen Durchgehens des Galaxy S7 Note. Die Gründe für VW kennt jeder. Der Autokonzern landete auf Rang 100.

ERST KUNDENFOKUS, DANN VERTRAUEN.

Es zeigt sich: Neben der Messung harter Fakten wie CO2-Verbrauch, dem Anteil von Ökostrom oder dem Verzicht auf Kinderarbeit spielt die gefühlte Wahrnehmung eine enorme Rolle. Ob die immer gerechtfertigt ist, wäre zu untersuchen. Ignorieren lässt sie sich aber nicht und verspieltes Vertrauen wiederzugewinnen, ist eine Herkules-Aufgabe.

GREEN INVESTMENTS.

Investoren sind die zweite große Macht, von der Unternehmen abhängig sind. Der Begriff des Green Investment ist schon lange kein Hype mehr, aber immer noch vage definiert. Im weitesten Sinne umfasst er Investitionen, die sich direkt oder indirekt positiv auf die Umwelt auswirken. Auch hier zeigt sich ein ähnliches Bild wie beim Verbraucher. Zu Beginn des Kapitalismus waren Unternehmen ausschließlich kapitalgetrieben. Im Laufe der Zeit wuchs die unternehmerische Verantwortung über rein finanzielle Bilanzen hinaus. Heute investieren Firmen und öffentliche Kassen in Gebäudesanierungen, den Ausbau öffentlicher Verkehrsmittel, die Förderung erneuerbarer Energien oder fahren Subventionen in fossile Brennstoffe zurück.

MUSTERSCHÜLER CHINA.

Auch Staaten treten als Investoren auf. China ist Vorreiter bei der Investition in ökologische Maßnahmen. Ja, das China in Asien mit den 1,4 Milliarden Einwohnern. Obwohl das Land heute immer noch der größte Verursacher von Treibhausgasen ist, zeigen dort radikale Maßnahmen erste Wirkung, um die schlechte Luft und den Ruf als Schmutzfink loszuwerden: Die landesweite Kohlenutzung ist begrenzt, es ist verboten, Kohle zur privaten Nutzung zu verbrennen, die Einfuhr von Plastikmüll aus anderen Ländern ist untersagt. Die Konsequenzen: Am chinesischen Rentenmarkt nimmt die Emission von Green Bonds rasant zu. Beliefen sich diese 2015 noch auf ca. eine Milliarde US-Dollar, waren es 2017 bereits 37,1 Milliarden. Mit dem Rückzug der USA aus dem Pariser Klimaabkommen überlässt Donald Trump China das Feld.

AUTOLAND CHINA.

Auch in Sachen Elektromobilität ist China Spitzenreiter. Bis vor kurzem hatten VW, Daimler und BMW wenig Anlass, in alternative Antriebe zu investieren. Dann verbot die chinesische Regierung einfach die Produktion von über 500 Modellen. Zehntausende Ladestationen werden errichtet, in Peking und Shanghai wimmelt es von elektrisch betriebenen Fahrzeugen. Im Januar lag die Zahl der Elektroautos landesweit bei über 700.000, bis 2020 sollen es fünf Millionen sein.

DIE FRAGEN DER GEGENWART FÜR DIE ZUKUNFT.

Unternehmen die in Zukunft wirtschaftlich erfolgreich sein wollen, müssen sie sich diesen Fragen stellen:
Woher kommen meine Rohstoffe?
Wie werden Sie transportiert und verarbeitet?
Wie lässt sich Energie einsparen oder selbst erzeugen?
Wie lässt sich ein geschlossener Wasserkreislauf herstellen?
Wie können Mitarbeiter sensibilisiert und geschult werden?
Je früher Unternehmen Antworten darauf haben, desto besser, denn die gesetzlichen Auflagen zum Umwelt- und Klimaschutz werden sich verschärfen.

GRÜNE GRÜNDER.

Die Plattform gruene-startups.de vernetzt und unterstützt seit 2016 Unternehmen der Green Economy mit dem Ziel, nachhaltige Geschäftsideen zu fördern. Laut Romek Vogel, einem der Gründer der Plattform, ist bereits jede sechste Gründung in Deutschland eine »grüne«, gestaltet also den Wandel mit ihren Produkten, Technologien oder Dienstleistungen mit. Er bemängelt allerdings die Bereitschaft der Investoren in Deutschland, vermutlich bedingt durch die nicht eingelösten Versprechen der Solarindustrie. Für die Zukunft glaubt er, dass die Produkte und Dienstleistungen am erfolgreichsten sein werden, die Nachhaltigkeit mit einem starken persönlichen Anreiz kombinieren. Viel Potenzial liege noch im Bereich der Kreislaufwirtschaft und der nachhaltigen Mobilität.

OHNE TRANSPARENZ KEIN VERTRAUEN.

Die vielleicht härteste ökologische Währung für Unternehmen ist Transparenz. Wer heute noch mit »FCKW-frei« wirbt, macht sich des Greenwashings verdächtig. Der Verzicht auf FCKW ist längst Gesetz und keine besondere freiwillige Anstrengung des Herstellers. Andere Spielarten dieses fragwürdigen Vorgehens sind zum Beispiel die Verwendung vager Begriffe, der Vergleich mit noch schlechteren Produkten oder Lobbyarbeit, um Gesetzestexte zu beeinflussen. Auch die deutsche Autoindustrie zeigt noch nicht genug Willen, das Zeitalter des Verbrennungsmotors zu überwinden und überlässt damit Tesla und Co. das Feld. Alle Maßnahmen für einen geringeren Verbrauch werden vom stetigen Wachstum der Motoren egalisiert.

TAUSENDMAL MEHR NACHHALTIGKEIT!

Oder man verwendet einfach immer wieder bestimmte Wörter. Die Häufigkeit des Wortes sustainability (Nachhaltigkeit) in US-amerikanischen Texten hat sich seit 1950 mehr als vertausendfacht. Der Cartoonist Randall Munroe nahm das zum Anlass und extrapolierte diese Entwicklung in die Zukunft. Nach unten stehendem Diagramm wird im Jahr 2109 jeder Satz nur noch aus dem Wort sustainability bestehen.

VERDICHTEN UND VERSCHWINDEN.

Zwei Prinzipien, die den Fortschritt der Menschheit schon immer und wohl auch in Zukunft charakterisieren, sind die Verdichtung und die Dematerialisation, also das Verschwinden. Hauptantrieb sind dabei Effizienzsteigerung und Vereinfachung. Das Prinzip der Verdichtung ermöglichte es über die Menschheitsgeschichte hinweg, immer mehr Erträge aus immer weniger Material und Energie zu erzielen. Am Beispiel der Landwirtschaft heißt das, spezielle Züchtungen halfen dabei, mehr Protein, Kalorien und Fasern zu liefern und dabei weniger Landfläche zu beanspruchen.

Das Prinzip der Dematerialisation ermöglicht uns, immer mehr Funktionen in immer weniger Objekte zu stecken. Am stärksten zeigt sich das in der Digitalisierung. Eines der besten Beispiele ist das Smartphone, das ganze Kategorien von Geräten überflüssig gemacht hat: Telefon, Anrufbeantworter, Wecker, Taschenrechner, Wörterbuch, Rolodex, Kalender, Landkarte, Taschenlampe, Faxgerät, Kompass, Metronom, Thermometer, Wasserwaage – sämtliche Ressourcen, die hierfür benötigt wurden, können eingespart werden. Die digitale Revolution verwandelt Atome in Bits. Bestand eine Musiksammlung früher aus Kubikmetern von Vinyl und später aus CDs, lässt sich diese heute in schwerelose Audiodateien verwandeln. Auch die Sharing Economy lässt Dinge verschwinden. Autos, Werkzeuge, Schlafzimmer und alles, was sich sonst noch teilen lässt, kann in weniger Stückzahlen produziert werden.

EINE NEUE ÖKOLOGIE.

Der enorme Fortschritt und das weit verbreitete Umweltbewusstsein zeigen, all die Demonstrationen, Protestsongs und der Club of Rome waren durchaus erfolgreich. Für diese veränderten Rahmenbedingungen hat sich der Begriff Neo-Ökologie durchgesetzt. Die Ziele sind die gleichen, aber wir kommen ihnen täglich näher.

WAS LEISTEN DATEN UND ALGORITHMEN?

Mithilfe von Daten und Algorithmen lassen sich nicht nur die finanziellen, sondern auch die ökologischen Kosten unternehmerischen Handelns berechnen. Emissionszertifikate sind ein Anfang. Denkbar wäre es, mit einem umfassenden Monitoring in Echtzeit jeden Schritt nicht nur in Dollar oder Euro zu beziffern, sondern zusätzliche Währungen wie CO2-Footprint, Quadratmeter Regenwald, Millimeter Meeresanstieg, etc. miteinzubeziehen. Wären die Auswirkungen so unmittelbar bekannt, würde das das Umweltbewusstsein weiter stärken. Algorithmen könnten dann alternative Handlungsvorschläge unterbreiten, die verträglicher wären. Auch eine Priorisierung der verschiedenen Umweltprobleme in Echtzeit wäre denkbar. Ist das Regenwald-Problem entschärft, steigt die Ozonschicht in der Priorität. Unternehmen, die in diesen Gefilden besonders ökologisch navigieren, könnten Anreize erhalten.

WIE WEIT GEHT DIE MACHT DER VERBRAUCHER?

Es zeigt sich, dass Kunden und Nutzer »ihre« Marken immer mehr gestalten, denn Unternehmen kommen nicht umhin, Kundenzufriedenheit und -loyalität in den Mittelpunkt ihrer Bemühungen zu stellen. Erst dann erlangen sie Vertrauen. Die Frage nach der Macht der Verbraucher wird sich allerdings in Luft auflösen, wenn die Datenmengen entsprechend groß und die Algorithmen entsprechend ausgeklügelt sind. Dann werden KIs jeden Menschen besser verstehen, als dieser sich selbst. Wirtschaft und Politik stehen dann an einem Scheideweg und eine neue, große Verantwortung tut sich auf. Wie wird diese Macht genutzt? Nach welchen Kriterien werden Entscheidungen gefällt? Hält auch hier Transparenz Einzug?

ÜBER MARCUS LIND.

Unser Autor Marcus Lind leidet seit seiner Geburt an Beobachtungsüberschuss. Daher sein Hang zu Philosophie, Metaebenen und Fragestellungen, die den Alltag sprengen. Obwohl er beim Schreiben großen Wert auf Eindeutigkeit legt, ist er überzeugt davon, dass ein Text manchmal maximale Verwirrung stiften muss. Außerdem kann er diverse Tierstimmen imitieren (oft nur aus freien Stücken, selten auf Kommando) und kennt sich mit Klangsynthese aus. Sein Rat an alle Leser: Nicht alles, was nach einer Vita aussieht, ist auch eine. Nebenbei denkt und schreibt Marcus Lind als Texter und Konzeptioner für große und kleine Marken auf marcus-lind.de.

Der Artikel als Illustration.

Sichern Sie sich die grafische Interpretation dieses Artikels von Janina Röhrig als Download.

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