Mega-online durch Corona – was bleibt in Zukunft von der digitalen Courage?

Reingeschmissen über Nacht in die digitale Welt. Sind wir plötzlich. Und müssen schwimmen,
ob wir wollen oder nicht. Wie die Krise uns digitaler macht und was wir für die Zukunft mitnehmen können.
Juni 2020

Mega-online durch Corona – was bleibt in Zukunft von der digitalen Courage?

Reingeschmissen über Nacht in die digitale Welt. Sind wir plötzlich. Und müssen schwimmen,
ob wir wollen oder nicht. Wie die Krise uns digitaler macht und was wir für die Zukunft mitnehmen können.

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Mega-online durch Corona – was bleibt in Zukunft von der digitalen Courage?

Reingeschmissen über Nacht in die digitale Welt. Sind wir plötzlich. Und müssen schwimmen, ob wir wollen oder nicht. Denn die Corona-Pandemie hat einen neuen Alltag geschaffen, der vorher unmöglich schien: Deutschland ist in der ersten Hälfte des Jahres 2020 ein im Turbogang digital arbeitendes Land geworden. Die kleinen und großen Deutschen sind so online, wie man hier nur irgendwie online sein kann. Erstklässler lernen das Alphabet am Küchentisch per Tablet, Architekten erklären Klienten Großinvestitionen an Handy und organisieren komplexe Teammeetings per Zoom statt auf der Baustelle. Die 85-jährigen Großeltern konsultieren den Hausarzt am Mac per Videochat und bestellen hinterher gleich Menüs beim Lieferservice, um als Mitglieder der Hochrisikogruppe nicht aus dem Haus gehen zu müssen. Geht auf einmal alles.

Kreatives Feuerwerk - aus der not geboren

Das neue Mega-Online-Leben zieht sich über ganze Kontinente und setzt kreative Kräfte frei: Digitale Weltchöre boomen, die Tänzer der Pariser Oper filmen zauberhafte Choreographien daheim und bauen sie zu Mosaik-Videos zusammen. Internationale Konferenzen in Wirtschaft und Diplomatie finden an Bildschirmen statt, auch Parteitage und Aufsichtsratssitzungen. Juristische Hürden? Wurden über Nacht genommen. Ein Modernisierungsschub, aus der Not geboren, – der wie ein globales Transformationsprojekt wirkt, das Soziologen und Wirtschaftswissenschaftler unter dem Brennglas als riesige Fallstudie betrachten können.

Digitalisierung als Schlüssel für das wirtschaftliche Überleben

Der Digitalisierung kommt in dieser Systemveränderung eine Schlüsselfunktion zu. Wie lange die Transformation der plötzlich fragilisierten Gesellschaft in einen immer virtuelleren Alltag dauern wird, wie und wo Digitalisierung zu mehr Innovation, Wohlstand, Arbeitsplätzen und Gesundheit führen wird – das ist allerdings noch unklar. Klar ist nur: Deutschland befindet sich im schwersten Wirtschaftseinbruch in der Geschichte der Bundesrepublik, und jeder Bürger muss damit individuell umgehen. Im Zentrum des Alltags stand bisher die Tatsache, dass die digitale Lernkurve von Millionen Menschen exponentiell gewachsen ist, wenn auch mit Kollateralschäden – denn viele fühlten sich vor allem am Anfang als einsame Performer, oft genug geplagt von technischer Unsicherheit und Doppel-, wenn nicht Dreifachbelastung durch Berufs- und Familienleben. Doch in den Tagen, in denen die Menschen Angst vor dem Absturz haben, erweist sich das Netz und seine Netzwerke als Sicherheitsnetz, als Anker, als Frühwarnsystem. Das Nachrichten, Bilder und den überlebenswichtigen Job ins Haus bringt, Nabelschnur zu anderen im Corona-Knast ist. Die digitale Welt ist das Fenster nach draußen, ein pulsierender Blutkreislauf zwischen Mensch, Maschinen und Netz.

Die Krise als Wirtschaftskiller und Booster

So dramatisch die gesamtwirtschaftliche Lage mit der Staatsverschuldung durch die Corona-Krise ist: für die Digitalisierung hätte nichts Besseres passieren können. Denn sie führt uns vor Augen, welche enormen Chancen darin liegen, immer bessere Vernetzungstechnologie zu nutzen. Unternehmen, die bereits vor der Krise stark in Digitalisierung investiert haben, profitierten schon während der ersten Phase des Lockdowns davon; das betrifft nicht nur Unternehmen wie den deutschen Wirtschaftsfels Siemens, sondern auch Mittelständler und Start-ups. Gerade wenn nach der Coronakrise Wertschöpfungsketten und globale Vernetzungen neu gedacht werden müssen, um von Pandemien unabhängiger zu arbeiten, kommt dabei der Digitalisierung eine Schlüsselfunktion zu. Ein Indikator für das wirtschaftlich erfolgreiche Durchdringen der Digitalisierung im Alltag sind die jüngsten Geschäftsergebnisse der fünf großen amerikanischen Tech-Giganten Apple, Microsoft, Amazon, Facebook und die Google-Holding Alphabet. Sie sind nach wie vor höchst profitabel und gehen als Gewinner aus der Krise heraus, und das obwohl Google und Facebook Einbrüche bei Werbekunden zu verzeichnen hatten. Nicht mehr Ölkonzerne gehören wie früher zu den wertvollsten Unternehmen, sondern eben Technologieunternehmen, die sowohl Arbeitsalltag als auch Privatleben bis in den letzten Winkel durchdringen. Im Confinement haben Unternehmen wie Netflix, Zoom oder auch der kleine Kochbox-Lieferant wie Hellofresh, dem in der Krise die vorherige Investition in eine konsequente Digitalisierung der Lieferketten zugute kam, sogar zugelegt. Die Frage ist nur, wie neben diesen finanziell potenten Riesen digitale Start-ups oder Mittelständler überleben können – und wie sich die Datenschutzpolitik in Europa entwickeln wird, damit die Nutzer die Dienste als ihre Freunde und nicht ihre Feinde sehen; gerade wenn ihnen Corona Apps in jeder Sekunde gefühlt auf die Pelle rücken.

BLEIBT DAS TRAUMA ODER DIE ERFAHRUNG VON RESILIENZ?

Was wird von der Corona-Krise bleiben? Ein gesamtgesellschaftliches Trauma? Ein Rucksack voller Rezepte in Resilienz? Ein neuer Wertekanon im Berufsleben, in dem die Digitalisierung das Austarieren von fein modulierbaren persönlichen Freiheiten selbstverständlich macht und zu größerer Effektivität führt? Sicher ist: Die Forderung nach lebenslangem Lernen im Beruf ist durch die Pandemie einem brutalen Praxistest unterzogen worden. Und sie hat gezeigt: wer schnell lernt und reagiert, dazu ein eigenes digitales Endgerät hat, kommt gestärkt aus der Krise. Spätestens seit 13-Jährige ihren Lehrern in virtuellen Team-Meetings bei Systemproblemen Nachhilfe in Online-Management gaben, nach Asien ausgerichtete Lifestyle-Händler über Nacht zu potenten Maskenlieferanten wurden (die banktechnisch komplexe Millionenumsätze nur über Smartphones abwickelten) und Software-Entwickler an Digital-Stage-Plattformen für Ensemble-Musiker arbeiten, ist das klar. Für die Generation der bildungsaffinen Schüler und Studenten, digital natvies, die bald auf den Arbeitsmarkt kommen werden, ist Corona die Chance ihres frühen Lebens. Obwohl sie um Monate ihrer klassischen Schulbildung, Praktika und störungsfreies Hochschulstudium gebracht werden, können sie früh Verantwortung übernehmen, an Deck stehen, eigene Projekte steuern und Selbstwirksamkeit erleben, ohne schwerfällige Organisationsstrukturen befragen zu müssen. Eine Erfahrung, die bei vielen den weiteren Lebens- und Berufsweg prägen wird. Das große Problem sind die Kinder und Jugendlichen, die durch Herkunft und Interesse auf persönliche und analoge Lernmethoden angewiesen sind. Sie laufen Gefahr, den Anschluss zu verlieren und unwiederbringliche Bildungslücken zu behalten. Hier gilt: verstärkt in Lehrpersonal, eindeutige digitale Lehrpläne und technische Ausstattung jedes einzelnen Schülers zu investieren, damit ein Teil dieses Jahrgangs nicht gesamtgesellschaftlich verloren ist. Eine bundesweite, klar strukturierte Telebeschulung scheitert im Moment noch daran, dass es neben dem Bildungsföderalismus keine dem Datenschutz entsprechende Videoplattform mit ausreichenden Serverkapazitäten gibt, die Schulen bewegen sich beim Improvisieren mit Microsoft Teams und Zoom in einer rechtlichen Grauzone. Von der digital lernenden und arbeitenden Gesellschaft abgehängt zu sein, ist für die junge Generation jedoch nicht nur ein Nährboden für künftige Arbeitslosigkeit, sondern auch für politischen Extremismus.

EINE NEUE VERTRAUENSKULTUR

Die Corona-Krise hat innerhalb weniger Tage verkrustete Strukturen in Organisationen aufgeweicht, Wände, auf denen in großen Buchstaben »Geht nicht« stand, eingerissen. Führungskräfte und Teammitglieder wurden aus ihrer Comfort Zone geworfen und mussten – wie nach einem plötzlichen Erdbeben – vieles neu und anders bauen, um zu überleben. Erst einmal provisorisch. Aus diesen immer verbesserten Provisorien werden neue Strukturen entstehen. Dazu gehört zeitlich und räumlich flexibleres Arbeiten, bei dem jedem Arbeitnehmer mehr zugetraut und getraut wird. Digitales Arbeiten spart commuting time, schont natürliche Ressourcen. In der Krise haben wir gelernt: wir können mehr als wir denken. Corona hat viele – manchmal auch unbequeme – Wahrheiten enthüllt. Und sie wird das Arbeitsleben weiter entschlacken. Dazu gehört der Anwesenheitskult, der nach wie vor in manchen Unternehmen zelebriert wurde und oft Ressourcen- und Motivationskiller war. Die Neubewertung von Eigenverantwortung und Kreativität wird aber auch Grenzen haben. Aus dem Notfallmodus werden wir in einen Normalmodus umschalten, denn ständig auf Hochtouren zu laufen, führt bald zu einem Komplettausfall des Systems. Bleiben wird jedoch die generelle Neuvalorisierung der Arbeit, auf die nicht wenige Arbeitnehmer als Quell aller Mühen gerne schimpfen und die sie – gekoppelt mit den Wohltaten des deutschen Sozialstaates – für selbstverständlich hielten, solange die Konjunktur brillant war. Arbeit wird nicht nur als Überlebensgrundlage empfunden werden, sondern als Zentrum des sozialen Gefüges für uns menschliche Rudeltiere, die während der harten Kontaktsperren über Wochen Zuhause kaserniert waren. Auf der anderen Seite werden Arbeitnehmer klare Grenzen einfordern müssen, sehr bewusst und selbstbewusst Time Slots definieren, in denen Arbeit tabu ist. Dann ist es eigentlich egal, ob es ein gesetzlich verankertes Recht auf Arbeiten im Home Office geben wird, das gerade in der politischen Diskussion ist. Mehr Home Office als im Moment geht gar nicht. Was Arbeitnehmer brauchen, sind technisch einwandfreie Systeme und das Einziehen von Grenzen. Wer einmal zehn Stunden am Stück in Zoom-Meetings Budget Forecasts gemacht hat, sehnt sich ins gute alte Büro mit Kaffeeküche zurück, das er früher verflucht hat.

ANALOGE GEGENBEWEGUNG

Durch den digital geprägten Corona-Alltag haben wir Nähe und Ferne zu anderen Menschen und Ereignissen völlig neu erlebt. Einander am Bildschirm zu sehen – sich aber nicht anfassen zu können – wurde nicht nur für getrennte Liebende zu einer zunehmenden emotionalen Qual. In der Zeit des Sehnens hat das Netz eine Menschlichkeit entwickelt, die als Erfahrung bleiben wird. Wir sahen Stars in ihren Schlafzimmern, lernten die Babys von Chefinnen kennen, teilten Kochrezepte mit Sterneköchen – wer möchte künftig auf diese Sympathie-Momente verzichten? Inwieweit diese zunehmende virtuelle Intimisierung unseren Berufsalltag prägen wird – so wie vor 20 Jahren das zunehmende »Du« -ist abzuwarten. Der Hunger nach nicht-digitalem Leben wird aber größer sein als je zuvor. So gut Technik ist: das tiefsitzende Bedürfnis, die unmittelbaren Sinneserfahrungen wie Schmecken, Fühlen oder auch Musik vor Ort zu hören, wo sie entsteht, wird eine Konstante unseres Lebens bleiben. Und gerade nach der Isolierungszeit und bei künftigen Isolierungsmaßnahmen größer sein als je zuvor. Insofern werden Geschäftsfelder, in denen diese Bedürfnisse befriedigt werden, boomen. Und neben dem Verzicht auf Businessreisen werden sehr sorgfältig geplante reale Treffen an Bedeutung gewinnen und Firmen-Events zunehmend wichtig für die Corporate Culture werden.

Messeveranstalter etwa, die stark von den Kontaktbeschränkungen getroffen wurden, sehen nach wie vor eine Zukunft für analoge Veranstaltungen und Wirtschaften. »Die Schnittstelle zwischen digitalem und analogem Arbeiten wird neu justiert«, sagt Dr. Andreas Knaut, Bereichsleiter Kommunikation der Messe Leipzig, voraus. »Auf der einen Seite wird das Pendel mehr in die digitale Richtung ausschlagen, etwa im Bildungsbereich und in den Unternehmen, die sich mobilen Arbeiten mehr öffnen«, meint er. Er erinnert jedoch daran, dass in vielen Unternehmen ein nicht unerheblicher Teil der Arbeit durch unersetzbare Handarbeit oder Dienstleistung per se analog ist und auch bleiben wird. Knaut sieht die Grenzen des digitalen Wachsens in der menschlichen Anlage als soziales Wesen, das den persönlichen Austausch braucht. »Wir erfahren doch gerade jetzt, wie wichtig uns die unmittelbare und individuelle Begegnung eigentlich ist. Persönliche Treffen werden eine neue Wertschätzung erhalten, aus diesem Bedürfnis heraus könnten auch neue Formate entstehen, die vielleicht persönlicher, exklusiver und interaktionsreicher sind. Eine Chance für Messen«, prophezeit er. Kommunikation und Digitalität werden sich neu sortieren. Was einen möglichen Wertewandel betrifft, so schätzt er ganz pragmatisch: »Ich glaube höchstens an eine graduelle Veränderung der Menschen in ihrem individuellen Konsumverhalten.«

DAS CORONA-ERBE: INNOVATION

Das Corona-Erbe: Innovation
Wenn etwas bleibt aus dem traumatischen Jahr 2020, dann eine Überraschung: die emotional positive Besetzung der Digitalisierung. Denn sie führte an vielen Stellen und bei vielen Menschen aus einer Falle, war Angstlöser. Im besten Fall entstehen künftig weitere neue kreative Techniken, die auch nach der Krise neben traditionellen Arbeitsweise parallel bestehen bleiben – so wie die geführte Portraitfotografie über Facetime, wie sie etwa der deutsche Fotograf Jonas Jungblut in Santa Barbara seit dem Beginn des Confinement entwickelt hat und der damit nach kurzer Zeit in der »Washington Post« erschien. Sein Beispiel zeigt, wie bereits existierende Techniken (Facetime, Screenshot, Erfahrung mit Models oder Interviewpartnern) durch das krisenhafte Zurückgeworfensein des Menschen auf das Netz auch neue Kunst- und Medienformen in den bisherigen Kanon einfließen werden. Nah zu sein, wenn man fern ist. Sich selbst zu sehen durch andere. Sich mit anderen dann zu vernetzen und damit Geld zu verdienen. Das nennt man Innovation.

Über Stefanie von Wietersheim.

Die Kulturjournalistin Stefanie von Wietersheim liebt ihr analoges Leben in Paris und Niedersachsen – mit Papierbüchern, Designstreichhölzern, Blumenstecken und dem Schreiben von echten Briefen. Ab und zu ist sie als leidenschaftlicher iPhone-Junkie wegen Sehnenscheidenentzündung allerdings arbeitsunfähig, da sie Social Media für die beste Erfindung des Jahrhunderts hält. Über ihre wöchentliche Bildschirmzeit schweigt sie beharrlich. Die heute 49-Jährige studierte in Passau und Tours „Sprachen, Wirtschafts- und Kulturraumstudien“. Nach ihrem Zeitungsvolontariat  bei der „Passauer Neuen Presse“ arbeitete sie für Tageszeitungen, Filmproduktion und Hochglanzmagazine. Ihre Bildbände „Frauen & ihre Refugien“, „Vom Glück mit Büchern zu leben“, und „Mütter & Töchter“ (Callwey-Verlag) wurden zu Bestsellern ihres Genres. In ihrem Buch „Grand Paris – Savoir-vivre für Insider und solche, die es werden wollen“ schreibt sie über ihre Wahlheimat Frankreich. Stefanie von Wietersheim geht als Autorin der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ regelmäßig auf Reportage und schreibt die FAS-Kolumne „Der Wohn-Knigge“. Mit dem in Passau lehrenden Professor Christoph Barmeyer veröffentlichte sie das Buch „Business Know-How Frankreich“ (Redline Verlag). Wenn sie nicht gerade schreibt oder chattet, singt sie oder dirigiert ihren Kammerchor. 


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