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Entsteht ein neues Wissensideal?

Entsteht ein neues Wissensideal?
ENTSTEHT EIN NEUES WISSENSIDEAL?
In den analogen Zeiten, als Menschen noch keine E-Reader hatten, sondern Bücher gelesen haben, galt der Universalgelehrte als das Wissensideal schlechthin. Diese Vorstellung bildete auch bei der Gründung der Universitäten im Mittelalter das Fundament – der frühere Begriff »Magister Artium« (= Lehrer der Künste) als Abschluss einer Universitätsausbildung beinhaltete schon an sich, dass verschiedene Wissensgebiete in einem Kopf Platz finden sollten. Im Lauf der Jahrhunderte hat sich das jedoch stark gewandelt. Nicht mehr der Universalgelehrte, sondern der absolute Experte auf einem Gebiet gilt heute als das Maß aller Dinge.
Die digitale Revolution hat diese Entwicklung extrem forciert. Einerseits kann sich heute jeder als Universalgelehrter fühlen, solange er eine schnelle Internetverbindung hat – weil Wissen jederzeit für jeden verfügbar ist. Andererseits ist unser Lernen durch die Digitalisierung sehr viel selektiver geworden. Nicht mehr eine gute Allgemeinbildung ist das Ziel, sondern das zugespitzte Expertenwissen. Denn die einzige Möglichkeit, aus der Masse hervorzustechen, besteht darin, sich auf ein Wissensgebiet zu spezialisieren. Der Druck zum Expertentum wird größer. So sind auch Berufe, die jahrhundertelang existierten, durch die Digitalisierung plötzlich verschwunden. Neue Berufe wie »Social Media Manager« sind in einem Fahrwasser mit hoher Strömungsgeschwindigkeit entstanden. Unsere Zeit ist schnelllebiger. Wer Erfolg haben will, muss sich spezialisieren und auf diesem Gebiet Höchstleistung bringen.
WER IM DIGITALEN MEER NICHT SCHWIMMEN KANN, GEHT UNTER.
Eine Schlüsselfähigkeit für den Erfolg ist die Fähigkeit zur schnellen Anpassung. Ein Informatiker muss sich, überspitzt gesagt, alle sechs Wochen eine neue Programmiersprache erarbeiten. Altes Wissen verfällt, neues Wissen ist gefragt. Während ein Universalgelehrter früher sein Wissen immer weiter verfestigte und durch Übung und Routine verinnerlichte, hat man heute den Eindruck, dass man ständig Neues lernen muss, um nicht unter die Räder zu kommen. Ewig lernen im Job, so lautet die Devise – die fortschreitende Digitalisierung gibt eine immer höhere Taktung vor.
Universalgelehrter oder Fachidiot?
Die schiere Menge an verfügbaren Informationen ist ins Unermessliche gestiegen, die Spezialisierung auf einem Gebiet scheint die Rettung zu sein. Im Zuge der Digitalisierung wurde der »Fachidiot« zum neuen Ideal auserkoren. Als Germanist der alten Schule kann ich heute kaum noch ein Gedicht auswendig runtersagen oder Zitate ausspucken – ich habe dieses Wissen nicht in meinem Kopf, sondern wörtlich genommen in der Tasche: In meinem Mobiltelefon respektive bei Google ist dieses Wissen sofort verfügbar. Ich habe kaum etwas im Kopf, was ich ohne Weiteres reproduzieren kann wie ein Esel, der Goldmünzen auswirft. Im Zweifelsfall kann ich ja Siri fragen.
Ist der Zwang zur Spezialisierung ein Segen oder ein Fluch?
Aus den neuen Möglichkeiten, Wissen abzufragen, ergibt sich ein Problem: Wo bleibt meine Identität als »Wissender«, wenn sich außen alles schnell ändert und in mir drinnen kein fest verwurzeltes Wissen mehr existiert? Wenn ich nur noch schnelles Wissen konsumiere, aber nicht mehr integriere? Die sogenannten Old School-Gelehrten waren stolz auf ihren Wissensschatz, auf den »Besitz« von Wissen – heute scheint es so zu sein, als sei alles Wissen flüchtig und nicht lange haltbar, nicht festhaltbar. Die Halbwertszeit von Wissen sinkt rapide. Nahezu in jedem Beruf muss man sich heute kontinuierlich weiterbilden – Fachwissen ändert sich ständig. Menschen sind wie »Wissensmorphe« – ihr Wissen ändert dauernd Form und Inhalt. Denn es gilt: Nur wer die Fähigkeit besitzt, neues Wissen schnell zu adaptieren bzw. vorhandenes Wissen ständig zu transformieren, kann erfolgreich sein.
Universalgenie – wo bist du geblieben?
Irgendwie hat man auch den Eindruck, dass es heute keine wirklich »großen Köpfe« mehr gibt. Besonders, nachdem auch noch Stephen Hawking weggestorben ist. Vielleicht ist das aber eine oberflächliche Wahrnehmung, weil es heutzutage extrem schwer ist, aus der Masse herauszutreten. Wer kennt schon die Namen der Nobelpreisträger vom letzten Jahr? Es gibt zwar eine Spezialistenschwemme, aber nach einem Universalgenie wie Goethe sucht man vergebens. Liegt es wirklich daran, dass wir uns aufgrund der digitalen Informationsflut immer weiter spezialisieren müssen? Sicher, es gibt heute keine »Baumeister« mehr wie noch zu Platons Zeiten (außer vielleicht im KiKa-Fernsehen), sondern es gibt Baustatiker für Tragwerksplanung. Durch die Digitalisierung ist der Wissenstransfer viel leichter und schneller geworden, das Spezial-Know-how ist zweifellos größer geworden ist, aber der Allrounder scheint vom Aussterben bedroht. Das Universalgenie sowieso.
Entfremdung vom ursprünglichen Know-how.
Eine gewagte These: Durch die Digitalisierung gehen potentielle Universalgenies einfach in der Masse unter. Sie können sich nicht mehr aus dem Sumpf der Informationsflut herausarbeiten und versinken im Morast des Halbwissens um sie herum. Beispiel: Ich habe mich schon immer gefragt, warum im Bereich der klassischen Musik heute keine großen Komponisten mehr auftauchen. In einem klassischen Konzert des 21. Jahrhunderts wird zu gefühlten 95 Prozent Musik von Komponisten gespielt, die bei Kerzenflackern in einem unbeheizten Gemäuer komponiert haben und nicht bequem in einem Smart Home. Woran liegt das? Natürlich gibt es auch heute noch begnadete Komponisten – aber sind das echte Genies, wie es ein Beethoven war?
Es mag vielleicht daran liegen, dass wir uns heute weniger auf unseren Kopf verlassen als auf digitale Arbeitsmittel. Dass wir es uns durch den Einsatz unzähliger digitaler Hilfsmittel zu leicht machen. Um bei dem Komponistenbeispiel zu bleiben: Heute bringt ein Komponist seine Noten kaum noch ohne digitale Hilfsmittel aufs Papier. Während ein Komponist früher die Musik für eine ganze Oper im Kopf hatte, bevor er sie ohne große Veränderungen niederschrieb, hat er heute eher im Kopf, wie man das neueste Notenschreibprogramm bedient. Außerdem konnte man in nicht digitalen Zeiten nicht ständig ein neues Notenblatt holen und wieder etwas verbessern – weder aus Zeit- noch aus Materialgründen. Wir sind schneller, aber vielleicht nicht mehr so originär.
Dasselbe beim Schreiben: War man früher gezwungen, auf der Schreibmaschine möglichst im ersten Anlauf seine Sätze zu tippen, schiebt man heute Wörter, Sätze und ganze Kapitel hin und her. Der Gedanke entsteht nicht fix und fertig im Kopf und wird dann niedergeschrieben, er entsteht während des Tippens. Das ist ein fundamentaler Unterschied. So bergen die heutigen digitalen Möglichkeiten auch die Gefahr in sich, dass man sich schnell mit dem erstbesten Ergebnis zufriedengibt. »Zuerst denken, dann schreiben« – das war einmal. Heute gilt: »Ich hau‘ mal was raus und denk‘ dann drüber nach, ob es gut ist.« Und dann komme ich aus Zeitgründen nicht mehr zum Nachdenken und schicke den digitalen Murks gleich raus in die eh schon von Informationen geflutete Welt.
Sind wir am Ende nichts als digitale Lemminge?
Was heute als unbedingt notwendiges Wissen deklariert wird, ist morgen schon wieder out. Eine lange Zeit in der Menschheitsgeschichte gab es nur relativ begrenzte sichere Informationen – dass die Erde eine Kugel ist, wusste man Jahrtausende lang nicht. Heute schwimmen wir in einem Meer von Wissen, aber das meiste davon erscheint uns als »vorübergehende Information«. In unserer Not, in unserer Überforderung werden wir zu Fachidioten, zu digitalen Lemmingen, anstatt unseren wirklichen Wissensschatz zu pflegen und zu erweitern. Das Internet fungiert quasi als eine Art externe Festplatte, auf die wir uns ständig verlassen und von der wir glauben, dass sie unser Wissen irgendwie »verwaltet«.
Was wäre, wenn diese Festplatte einmal ausfallen würde? Wie würde sich das auf unser geistiges Befinden auswirken, wenn man das Internet einfach abschalten könnte? Wahrscheinlich würden wir herumzappeln wie Fische auf dem Trockenen oder wie hungrige Säuglinge nach der Mutterbrust schreien. Eine Abnabelung wäre gefährlich. Diese Vorstellung zeigt, wie anfällig und ungesichert das oben beschriebene, neue Wissensideal eigentlich ist. Steuern wir vielleicht jetzt schon als digitale Lemminge auf den Abgrund zu, ohne es zu wissen?
über rainer rupp.
Der Autor, Rainer Rupp, studierte Germanistik und Philosophie, bevor er 1995 in den Sog der Werbebranche geriet. Nach Lehr- und Wanderjahren in großen Agenturen ist er seit 2003 freier Texter in Heidelberg. Neben dem Erstellen von Dienstleistungstexten – seinem Brotberuf – begeistert sich der Autor auch für das Verfassen von literarischen Texten. Denn die digitale Welt kann trotz KI und anderem Schnickschnack auf eines nicht verzichten: auf das Gehirn mit seinem unnachahmlichen Neuronenfeuerwerk.