Alles da, alles nah – die 15-Minuten-Stadt

Zurück in die Zukunft und zum guten alten Kiez.
Juli 2021

Alles da, alles nah – die 15-Minuten-Stadt

Zurück in die Zukunft und zum guten alten Kiez.

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Alles da, alles nah – die 15-Minuten-Stadt.

Wir schreiben das Jahr 2023, morgens 7.30 Uhr. Die junge Mutter Anna D, selbstständig, bringt ihre beiden Kinder in die Kita. Danach holt sie Brötchen beim Bäcker und einen Kaffee Latte vom Barista am Eck. Minuten später erreicht sie ihren Arbeitsplatz in einem Co-Working-Space. Später wird sie ihre Projekte im gut ausgestatteten Homeoffice fortsetzen, gleich nachdem sie unterwegs ein Rezept beim Arzt und die Kids aus der Betreuung abgeholt hat. Zur schönen, bezahlbaren Wohnung mit Balkon sind nur ein paar Schritte. Während die Kleinen auf der Straße spielen, erledigt Anna noch ein paar Einkäufe. All das mitten in der Stadt. Zu Fuß. Ohne Auto: Willkommen in der 15-Minuten-Stadt.

Zurück in die Zukunft und zum guten alten Kiez.

Schöne Utopie…? Eher ein Besinnen auf das Wesen von Urbanität: Früher waren dezentrale intakte Viertel mit guter Nahversorgung die Regel. Über die Jahre verknappte die Attraktivität der Städte den Wohnraum. Als Antwort wurden – und werden –Neubausiedlungen in der Peripherie hochgezogen. Meist als Schlafviertel ohne Infrastruktur, dafür mit maximalem Pendleraufkommen: Ob Zur Arbeit und Schule, zum Einkaufen oder Friseur, nichts funktioniert ohne Fahrzeug. Die Zentren mutieren zu reizlosen Einkaufs- und Arbeitsquartiere mit Feinstaubfalle. Folge: Die Menschen leiden unter Lärm, Abgasen und gestiegenen Mieten. Gleichzeitig veröden die Cities durch wachsenden Leerstand. Letzteres hat Corona zusätzlich befeuert.

Immer mehr Natur fällt der Randbebauung zum Opfer. »In Deutschland werden pro Tag über 50 Hektar Grünfläche versiegelt. Das ist eine dramatische Entwicklung, die nicht mehr zu rechtfertigen ist«, sagt Henrik Diemann, Architekt aus Hamburg und Geschäftsführer der Projektentwickler Urbainity.

Trotzdem: Städte behalten ihre Strahlkraft.

In Deutschland wohnen mehr als 70 Prozent der Bevölkerung in Metropolregionen. Aus diesem Grund forciert Anne Hidalgo als Bürgermeisterin von Paris ihre Vision der begrünten, autofreien 15-Minuten-Stadt. Kein Wunder: Paris zählt zu den dichtesten Städten der Welt mit 20.000 Einwohner pro Quadratkilometer (Quelle: Goethe-Institut), zum Vergleich: In München sind es 4800, in Berlin 4100. Auch andere internationale Metropolen wie Oslo, Gent, Barcelona, London oder New York denken um. Sie stellen Menschen, Umwelt und Klima wieder in den Mittelpunkt der Stadtentwicklung. Der Verzicht aufs Auto und eine neue Mobilität mit starkem ÖPNV sind Grundlage aller Pläne.

Schönheit des Lokalen scheitert am politischen Unwillen.

Für Architekt Henrik Diemann ist das smarte Viertel alles andere als Utopie. Doch fehle der politische Wille. »In Deutschland herrscht die Regelungswut! Unzählige Menschen diskutieren und erlassen DIN-Normen und verschärfen Gesetze. Niemand möchte entscheiden und Verantwortung übernehmen oder zeigt sich aufgeschlossen gegenüber Neuem. Der Gesetzgeber müsste schlanke gesetzliche Instrumentarien entwickeln, die eine Funktionsmischung auch in bestehenden Quartieren zulassen. Das Bauplanungsrecht ist viel zu starr. Änderungen dauern häufig fünf Jahre und länger oder sind gar nicht möglich.«

Markus Wassmer, seit 20 Jahren als Architekt in München tätig: »Alles viel zu kompliziert und träge hier. Die Stadt wünscht sich Nachverdichtung, fordert aber Unterschriften von den Anwohnern eines Bauvorhabens. Doch welche Nachbarn unterzeichnen das, wenn sie Probleme erwarten bei Besonnung, Beschattung und dem sozialen Abstand? Hier fehlen der Mut und die Souveränität der Politik. Wir brauchen politische, charismatische Vorbilder, die schnell grünes Licht geben für Bauvorhaben und smarte Mobilitätskonzepte.«

Mehr Gemeinsinn gefragt?

Auch Architekt Matthias Pfeifer findet die 15-Minuten-Stadt realistisch. »Muss man nur machen. Natürlich zu Lasten des Autoverkehrs.« In den Niederlanden, Schweden oder Norwegen ist man offenbar schon weiter: »Die skandinavischen Länder haben traditionell Gesellschaften mit viel höherer Gemeinwohlorientierung. Die Menschen vertrauen dem Staat mehr und sind daher auch bereit, höhere Steuern zu zahlen. Da geht natürlich mehr als bei uns. Es sind genau die Länder, in denen laut Umfragen die glücklichsten Bürger leben«, sagt der Geschäftsführende Gesellschafter von RKW Architektur + Düsseldorf. 

Statt Flächenfraß lieber Nachverdichten.

Grüne, smarte und verkehrsfreie Quartiere mit allem, was das Leben braucht in Laufweite – das klingt schon gut. Auch, weil die Flächen und Biotope am Stadtrand verschont blieben. Doch was ist mit bezahlbarem Wohnraum? »Nachhaltige Quartiersentwicklung heißt hohe Dichte. Wir brauchen Menschen, die das Mitmachen und Gesetze, die das ermöglichen. Die bezahlbarsten Mieten sind im Altbau. Hier sollte nicht zu viel teuer saniert werden. Das erfordert Toleranz auf allen Seiten und mehr Gemeinschaftlichkeit – das kann sehr schön sein. Viele Menschen wünschen sich genau das«, stellt Matthias Pfeifer in den Raum.

Henrik Diemann bestätigt: »Bezahlbare Mieten sind möglich, wenn wir bereit sind, in einer höheren Dichte zu leben. Der Hamburger Drittelmix für Quartiere ist ein erfolgreiches Modell. Hier finanzieren 1/3 Eigentums- sowie Mietwohnungen das Drittel Sozialwohnungen. Das ist durchaus lebenswert, wenn Gebäude begrünt und kleine Quartiersplätze in Straßenzüge integriert werden. Es ist wichtig, dieses Thema in der Öffentlichkeit zu diskutieren und die Vorteile hervorzuheben. Eine Stadt kann eine hohe Lebensqualität haben, selbst bei Gebäuden mit zehn Geschossen.«

Eine Möglichkeit wäre, bezahlte Studienaufträge an junge Architekturbüros zu vergeben. »Und die entwickeln gemeinsam mit den Auftraggebern verschiedene Varianten und Kostenmodelle für unterschiedliche Lebensentwürfe. Das erfordert allerdings die Entscheidungsfreude bei den Verantwortlichen…«, sagt Markus Wassmer.   

Eines ist klar: In der Stadtentwicklung braucht es frischen Wind und Courage, damit mehr Menschen so leben können, wie Anna D. es bereits tut.

Über Ute Latzke.

Ute Latzke ist Kommunikationsexpertin für Architekten, Innenarchitekten und Entwickler sowie Texter und Bloggerin. Als Autorin veröffentlichte sie Beiträge in zahlreichen Fachmagazinen wie DAB, db, OpusC, TB Info, Greenbuilding Magazin, industrieBAU, Beton und Stahlbeton, Deutsches Ingenieurblatt, bau Rundschau.

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